Wieso streiten wir und wie könnte ein konstruktiver Prozess zur Lösung von Auseinandersetzungen aussehen?
Wir Menschen geraten laufend in Konflikte, die auch immer wieder in ausufernde Gewalt wie Kriege münden. Oft haben alle Involvierten den Eindruck, dass es keine Alternativen zu einer kriegerischen Auseinandersetzung gibt. Doch wieso halten wir Gewalt für nötig?
Unser Problem ist, dass wir in Angelegenheiten, die uns besonders wichtig sind, unerwünschte Resultate erst akzeptieren, wenn wir keine Chance mehr sehen, sie zu ändern. Im Extremfall akzeptieren wir Entscheidungen erst, wenn wir nicht mal mehr glauben unter dem Einsatz von Gewalt unser Wunschresultat erzwingen zu können.
Auch Selbstverteidigung löst keine Probleme, sondern sie meint, dass wir das Faustrecht akzeptieren. Wir stimmen damit unausgesprochen zu, die Entscheidung jener Partei zu akzeptieren, die sich als physisch überlegen herausstellt. Indem wir uns auf einen Kampf einlassen, gestehen wir zu, dass es nicht nötig ist, eine tatsächliche inhaltliche Lösung für unseren Konflikt zu finden.
Selbstverständlich ist es für Parteien, die entsprechende Ressourcen haben, sehr verlockend auf das Faustrecht zu setzen, da es oft einfacher scheint, als die stärkere Partei einfach über Widersprüche hinweg zu entscheiden, als eine Lösung des Konflikts zu erarbeiten. Eine Auflösung von Konflikten kann sehr kompliziert sein, und sie kann entsprechend lange dauern. Allerdings stellt ein gewonnener Krieg nur eine vorübergehende Unterdrückung eines ungelösten Problems dar. Eine physisch eindeutig unterlegene Partei kann keinen Krieg beginnen, aber sie kann weiterhin im Untergrund Unruhe stiften und so das allgemeine Wohlbefinden untergraben. Einen derart unterschwellig brodelnden Konflikt einzudämmen, ist auf Dauer eindeutig teurer und fordert größere Opfer als eine direkte und offene Bearbeitung des Problems. Es lohnt sich langfristig nicht, Gewalt anzuwenden, da Konflikte durch sie im besten Fall einfach nicht abgebaut werden können. Im schlechtesten Fall verschärfen sie die Konflikte durch emotionale Eskalation sogar. Einmal ganz abgesehen davon, dass Gewalt unausweichlich, aber völlig unnötig, Zerstörung verursacht.
Bereits die Idee, dass es Situationen gibt, in denen wir zu keiner inhaltlichen Einigung finden können, ist für mich ein Hinweis auf erschütternde Unvernunft. Aber selbst wenn es tatsächlich echte Konflikte gäbe, die eben nicht vernünftig aufgelöst werden können, sollten wir uns als rationale Wesen auf weniger desaströse Methoden als Gewalt einigen können, um zu einer finalen Entscheidung zu gelangen.
Natürlich hat aber jede mögliche Alternative zur Gewalt das Problem, das Leute, die unzufrieden mit den Ergebnissen sind, immer noch zur Gewalt greifen können, und dass wir ohne Gewaltanwendung niemanden zwingen können, auf anderen Wegen erreichte Resultate zu akzeptieren.
Allerdings löst Gewalt im Grunde kein Problem. Denn, wie bei vielen anderen denkbaren Entscheidungsfindungsprozessen, sind die bestimmenden Mittel alles Andere als fair verteilt. Auch bei kriegerischen Auseinandersetzungen, gewinnen zwangsläufig jene, die besser dafür ausgerüstet sind. Gewalt hilft also eindeutig nicht, ein faires Ergebnis zu erzielen.
Im Grunde sollte also eigentlich egal sein, ob ich in einem Schachspiel benachteiligt bin, weil ich weniger gut spielen kann, als meine Kontrahent:innen, oder ob ich einen Krieg verliere, weil ich weniger militärische Schlagkraft entwickeln kann. Allerdings bringt ein Krieg Elend und Zerstörung. Wir sollten uns also dazu durchringen, uns ohne derartige Verwüstung einer Entscheidung zu beugen.
Freilich sind auch fairere Entscheidungsprozesse vorstellbar, als beliebige Spiele. Aber alle setzen voraus, dass wir uns auf die Regeln einigen. Und genau darin liegt unser Problem: Auf Gewalt als letzte Ausflucht müssen wir uns nicht extra einigen. Die bleibt im Prinzip immer als höchste Eskalationsstufe verfügbar. Seltsam, dass sie so oft versucht wird, da Kriegsmittel meist furchtbar ungleich verteilt sind.
Die Frage ist, wie wir uns in der gegebenen Realität friedlich durchsetzen können, obwohl Gewalt anscheinend letztlich doch als legitimes Mittel zur Entscheidungsfindung anerkannt ist.
Im Absolutismus profitiert eine kleine Gruppe davon, die Mehrheit zu unterdrücken. Zwar wäre die Mehrheit im Prinzip viel stärker, als jeder Machtapparat, aber sie ist nicht organisiert. Und Diktaturen bestrafen und verfolgen nichts härter, als den Versuch eine Opposition zu organisieren. Deswegen kann die unterdrückende Minderheit überwältigende Angst sähen und verlockende Vorteile für die aktive Förderung des repressiven Systems gewähren. Nicht konform zu agieren und ungehorsam zu sein, bringt uns in Lebensgefahr. Weil die allgemeine Angst überwältigend ist, besteht auch kaum Anlass zur Hoffnung, dass wir mit Widerstand mehr als unseren eigenen Untergang erreichen. (Oft auch den von uns nahestehenden Personen.) Nur wenn genügend Profiteure ihre Gefolgschaft verweigern, wird so ein Unterdrückungssystem zerfallen.
Das ist natürlich eine Extremsituation, in der wir aber auch eine Spur für die Überwindung solcher Systeme finden können: Wir Menschen sehnen uns danach wertgeschätzt und gemocht zu werden. Wir fühlen uns grundsätzlich wesentlich wohler, wenn sich andere über uns freuen, als wenn sie Angst vor uns haben und uns deswegen nur gezielt sagen und zeigen, was wir hören und sehen wollen. Es gibt wohl geistig kranke Ausnahmen, die dringend psychologische Hilfe brauchen, doch sind solche klar in der Minderheit. (Wir täten gut daran, solche Menschen zu identifizieren, und ihnen keine Macht zu geben.) Und hier treffen wir auf ein wichtiges Schlagwort:
Wenn ich andere zu Handlungen bewegen kann, übe ich Macht aus. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass ich Macht nicht im eigentlichen Sinne haben kann, sondern in Wahrheit entschließen sich andere Leute, meinen Vorgaben zu folgen. Wenn eine Person nicht tut, was ich von ihr will, dann habe ich auch keine Macht über sie.
Wenn mir eine Person beispielsweise eine Pistole an den Kopf hält, und droht mich zu erschießen, falls ich ihren Anordnungen nicht gehorche, gebe ich ihr nur Macht über mich, wenn ich mein Verhalten aufgrund dieser Drohung anpasse. Wenn ich dieser Person nicht gehorche, kann sie mich zwar vielleicht erschießen und mich dann maximal als abschreckendes Beispiel benutzen. Aber sie könnte mich nicht zum Instrument ihrer Machterweiterung machen. Wenn sie mich nicht dazu korrumpieren kann, in ihrer Abwesenheit auszuführen, was sie mir vorgibt, kann sie durch mich nicht ihre beschränkte Reichweite vergrößern. Ohne meinen Gehorsam kann sie durch mich keine zusätzliche Macht entfalten. Und in vielen Fällen reicht es bereits aus, dass ich untätig bleibe. Wenn ich von Korruption weiß, aber nichts dagegen unternehme, helfe ich dieser Kooruption weiter zu bestehen.
Weil niemand überall gleichzeitig sein kann, ist die Angst, die Unterdrücker:innen schüren können, von entscheidender Bedeutung.
Wäre uns unsere Möglichkeit zur Selbstbestimmung wichtiger als unser unmittelbares Wohlergehen, könnten Möchtegern-Unterdrücker:innen schlimmstenfalls punktuell Gewalt ausüben, aber sie könnten kein totalitäres System etablieren. Psychisch grundsätzlich funktionale Leute sind in der großen Mehrheit. Wären wir mutig genug, könnten wir rasch gewalttätige Leute entwaffnen und daran hindern, weiterhin derartige Handlungen zu setzen.
Es gibt freilich auch die andere Seite: Verlockung. Nach dem Modell: Zuckerbrot und Peitsche
. Auf diesen Aspekt gehe ich aber nicht ein, weil es erheblich leichter ist, auf einen versprochenen Vorteil zu verzichten. Allerdings steigert dieser Aspekt die Wirkung der Angst noch: Wenn ich mich gegen Unterdrückung stelle, wird es für mich unbequem. Wenn ich mich unterordne oder sogar beteilige, dann kann ich sogar Vorteile für mich persönlich erlangen. Der Preis dafür ist freilich, dass ich so dabei helfe, das Regime zu erhalten, das ich als falsch und problematisch erkenne.
Totalitäre Systeme hängen davon ab, Leute über Angst und Bestechung zu Zombies des Apparats zu machen. Doch in einem totalitären System können wir keinen lebenswerten Alltag erwarten, denn es basiert auf Einschüchterung und Korruption. Nur wenn wir alle gewaltfrei den Gehorsam verweigern, untergraben wir die Dynamik, die solche repressiven Systeme trägt. Wir können die Ausbreitung einer totalitären Seuche nur stoppen, indem wir alle uns einzeln weigern, ihrem Druck nachzugeben. Wenige Sandkörner im Getriebe können bereits mächtige Maschinen stoppen, aber sehr viele Sandkörner werden zum auch mit größter Gewalt unüberwindbaren Hindernis. Selbst große Panzer versinken hilflos im Treibsand.
Wieso haben wir als Menschen nicht nur die Erfolgsgeschichte einer einzigen Kultur, die sich über die ganze Erde ausbreitet und in der die Lebensbedingungen laufend besser werden? Wieso folgen historisch – nach längeren Pausen – immer wieder völlig neue Hochkulturen auf den Untergang älterer?
Die Lebensbedingungen in etablierten Hochkulturen sind ausreichend lange gut genug, um unsere Selbstverteidigungsmechanismen zu Gunsten von anderen Investitionen abzubauen, die (in Zeiten ohne kriegerische Herausforderungen) viel mehr zu unserem gemeinsamen Wohlbefinden beitragen, als ein Waffenarsenal und Heer. Wohlbefinden erscheint in Frieden und Wohlstand aufwachsenden Generationen selbstverständlich. Not und Krieg werden zu einem fremdartigen Konzept, das wir nicht mehr wirklich nachvollziehen können. Erfolgreiche Zivilisationen werden damit zu Opfern ihres eigenen Erfolges. Zugleich haben aber andere Kulturen aufgrund ihres Mangels den Antrieb, sich mehr Ressourcen zu erschließen. Zufriedene Leute wollen destruktive Kämpfe vermeiden. Not leidende Leute können mehr durch Kriege gewinnen, als verlieren. Und kaum jemand kann sich sicher und geborgen in einem totalitären System fühlen.
Jede Zivilisation, die großen Wohlstand und Stabilität erreicht, muss notwendigerweise diese Lebensqualität auch benachbarten Kulturen verschaffen, da sie andernfalls von diesen anderen Kulturen zum Feind erklärt und angegriffen wird.
Der fatale Fehler unserer aktuellen westlichen Zivilisation ist, dass wir unseren benachbarten Gesellschaften keinen vergleichbaren Wohlstand verschafft haben. Wir haben unser Wohlergehen im Gegenteil sogar zu einem guten Teil auf der Ausbeutung anderer Völker begründet. Damit haben wir unsere eigenen Feinde geschaffen.
Ist ein friedlicher Ausweg aus dieser Zwickmühle denkbar? Rein vernünftig betrachtet wäre natürlich eine faire Aufteilung des Wohlstandes und der Belastungen eine selbstverständliche Lösung, aber da wir emotional reagieren und von Ideologien geblendet sind, ist dieser Weg anscheinend nicht möglich. Unser Misstrauen und unsere Gier scheinen diese vernünftige Auflösung des Missstandes unmöglich zu machen. Wir müssten vergangene Ungerechtigkeiten und Verletzungen hinter uns lassen und gute, zuverlässige Regeln vereinbaren, an die sich all halten. Aber wie können wir unsere Gier und unser Missstrauen überwinden? Es wäre großartig eine alltagstaugliche Antwort auf diese schwerwiegende offene Frage zu finden ...