Inhalt
freidenk.net ... frei gedacht

Rufmord

Wieso Cancel Culture ein schwerwiegendes Problem für unsere Gesellschaft ist.

In den letzten Jahren musste ich leider eine zunehmend salonfähig werdende Dynamik beobachten. Leute versuchen ihre Überzeugungen vor Herausforderungen abzuschirmen, indem sie jede Hinterfragung als niederträchtigen Angriff auslegen. In der Regel werfen sie kurze schmähende Kommentare gegen einzelne Leute in eine Gruppe und erzeugen damit eine Dynamik, die es mit großen emotionalen Kosten verbindet, ihren drastischen Wertungsexzessen zu widersprechen. Falls es trotzdem jemand wagt, ihre Schmähung in Frage zu stellen, deklarieren sie diesen Zweifel als verwerfliche Aggression, die von jeder redlichen Person im Keim erstickt werden muss, um weitere Gewalttaten gegen Wehrlose zu unterbinden. Wer möchte riskieren unredlich zu erscheinen?

Deswegen wagen es nur sehr selbstsichere und hoch motivierte Personen, die getätigten Schmähungen offen herauszufordern. Schließlich werden so auch alle Leute zu niederträchtigen Bestien gestempelt, denen es in den Augen der Mehrheit nicht offensichtlich gelingt den ursprünglichen Angriff komplett zu entkräften.

Hinterhältig

Da in der Regel die geschmähten Leute nicht zuerst direkt mit dem vermeintlichen Anliegen konfrontiert, sondern erst mit einem anderswo über üblicherweise unangemessene Behauptungen aufgewiegelten Mob angegriffen werden, ist es in der Regel ein hohes persönliches Risiko solche Anschuldigungen herauszufordern. Selten haben wir genügend Informationen über die angegriffenen Leute, um entlastende Beweise liefern zu können. Und weil bereits Zweifel an den Anschuldigungen als niederträchtige Motivation verteufelt werden, schweigen selbst insgeheim nicht überzeugte Leute meist, anstatt sich dem Risiko auszusetzen auf diese Weise unnötig ins Kreuzfeuer zu geraten. Selbstverständlich ist es nicht verlockend den eigenen Status durch vermeidbare Konflikte zu gefährden. Besonders wenn die Druck machenden Leute bereits von Anfang an zeigen, dass sie emotional entgleist agieren. Es ist viel einfacher unsere Redlichkeit zu symbolisieren, indem wir die Schmähung uns meist nicht näher bekannter Personen zu bestätigen. Komplizenschaft wird uns leicht und attraktiv gemacht, indem wir uns in dieser Dynamik sogar gefahrlos Bestätigung verschaffen können, indem wir zusätzlich eigene Schmähungen beisteuern. Leider bleibt eine vernünftige Beschäftigung mit den möglicherweise relevanten Anliegen dabei auf der Strecke.

Asozial

Ich bin sehr besorgt, diesen Teufelskreis immer öfter in unserer Gesellschaft vorzufinden. Denn diese Mischung aus Angst und Empörung ist typisch für Diktaturen. Dort ist es für die führende Elite essenziell jede Solidarität in der unterdrückten Mehrheit durch Spaltung, Angst und die Bevorzugung von jenen zu verhindern, die bereit sind, für persönliche Vorteile anderen zu schaden.

In einer demokratischen Gesellschaft, in der wir (mühsam) versuchen über rationale Diskurse einen Interessenausgleich zu erlangen, ist die Unterdrückung kritischer Hinterfragung ein gefährliches Gift. Intransparenz und fehlende Kontrollinstanzen blockieren unseren Erkenntnisprozess und schützen Korruption. Käufliche vorteilhafte mediale Berichterstattung untergräbt zusätzlich die dringend nötige unabhängige Kontrolle.

Weil Medienunternehmen und Internetplattformen als Unternehmen geführt werden, deren einzige Aufgabe das Erwirtschaften von Profiten ist, dürfen wir uns von ihnen nicht erwarten, dass die Förderung oder Bewahrung von Frieden und Wohlstand in ihren Entscheidungsprozessen irgendeine Rolle spielen. Sie können sich im Gegenteil besonders zuverlässige Profite verschaffen, indem sie die aktuelle Machtelite bestärken. Ganz egal, wie korrupt deren System ist.

Es ist doppelt erschütternd, das ausgerechnet das Mäntelchen der reinsten Ethik für Prozesse missbraucht wird, die unsere bewährten Grundwerte zersetzen.

Konfliktunfähig

Für demokratische Gesellschaften ist die Fähigkeit konstruktiv und verantwortungsvoll mit Konflikten umzugehen, von wesentlicher Bedeutung. Die Bildung von erregten Mobs und die Instrumentalisierung von sozialem Druck sind alles Andere als konstruktiv, wenn nicht zuvor direkte Konfliktlösungsversuche beispielsweise aufgrund von ungleichen Machtverhältnissen gescheitert sind.

Leider haben wir es verabsäumt rechtzeitig dafür zu sorgen, dass allgemein genutzte Kommunikationskanäle jene Verhaltensweisen unterstützen, die wir in einer diversen Gesellschaft brauchen. Viele junge Erwachsene konnten es ihr ganzes bisheriges Leben hindurch vermeiden mit anders denkenden Menschen konfrontiert zu werden. Sie mussten niemals Wege finden, auch mit Leuten umzugehen, deren Meinungen sie ablehnen. Weil sie daran gewöhnt sind, immer nur Bestätigung zu erfahren, empfinden sie Zweifel an ihren Überzeugungen als drastischen Einschnitt in ihre geistige Unversehrtheit. Sie sehen es in Folge dessen als völlig legitim an, Andersdenkende komplett auszugrenzen und nicht nur sozial, sondern auch wirtschaftlich zu vernichten. Ihre persönlichen Überzeugungen dürfen um keinen Preis kritisch hinterfragt werden. Denn das ist unangenehm und darf daher nicht geduldet werden. Eine konstruktive rationale Diskussion der Argumente dafür und dagegen würde bedeuten abscheulichen Ideen Raum zu geben. Dabei stört sie nicht, dass sie in vielen Fällen wesentlich rücksichtsloser und destruktiver agieren als jene Leute, die sie mit drastischen Schmähbegriffen ächten und für deren Ausgrenzung sie unbedingte Gehorsamkeit fordern. Wer sich nicht mit ihnen gegen ihre Opfer verbündet, wird kurzerhand selbst zur Unperson erklärt, die um jeden Preis daran gehindert werden muss, ihre Ideen darzulegen.

Widersprüchlich

Derartig agierende Leute gehen anscheinend davon aus, dass der Zweck alle Mittel heiligt. Sie scheinen also einerseits davon überzeugt zu sein, dass es sogar tugendhaft wäre extrem rücksichtslos vorzugehen, wenn das Ziel nur wichtig genug ist. Andererseits argumentieren sie laufend, dass nicht die Absichten, sondern die Ergebnisse entscheidend wären. Sie kämpfen nicht für Gleichbehandlung, sondern für gleiche Ergebnisse und fordern deswegen sogar gezielt Ungleichbehandlung, um Statistiken auszugleichen. Dabei kommen sie anscheinend nicht auf die Idee, dass eine große Vielfalt von Umständen zu unterschiedlichen Ergebnissen führen. Allerdings verteufeln sie selbstverständlich auch derartige Kritik als verwerflich und bekämpfen hoch emotionalisiert alle, die sich kein unreflektiert simplistisches statistisches Raster von ihnen aufzwingen lassen wollen. Wer die Welt nicht nach ihren Maßstäben in gut und böse einteilt, hat das recht sich zu äußern verwirkt. Redefreiheit gestehen sie ausschließlich konform denkenden Leuten zu. No discussion!

Was tun?

Auch wenn es zuweilen sehr unbequem sein mag: Wir müssen uns zur Wehr setzen, wenn wir eine egalitäre demokratische Gesellschaft schätzen, die uns allen die Möglichkeit gibt, gleichberechtigte Teilnehmer:innen unserer Gemeinschaft zu sein. Es liegt in unserer persönlichen Verantwortung nicht den einfachen, bequemen Weg zu gehen. Auch wenn wir dafür geächtet werden, selbst die freie Meinungsäußerung von Leuten zu verteidigen, deren Ausgrenzung eine lautstarke, hoch motivierte Gruppe fordert. Wenn wir uns nicht für unsere Werte einsetzen, werden wir sie verlieren.

Freilich ist unsere Gesellschaft weit davon entfernt, wirklich zufriedenstellend zu funktionieren. Gerade deswegen können wir es uns nicht erlauben tatenlos zuzusehen, während andere versuchen die mühsam erarbeiteten rationalen demokratischen Prozesse zu zerschlagen, die wir heute genießen können. Niemand sollte andere Leute daran hindern dürfen sich zu artikulieren. Leute, die sich von Ideen anderer verletzt fühlen, haben ein persönliches psychologisches Problem, das nicht durch Redeverbote gelöst werden kann.